Die Zäsuren von 1974 und 1991
Ab 1945 nahm die Zahl der Arbeitsplätze in allen Branchen ausser in der Landwirtschaft zu, da in ganz Europa eine lang anhaltende Hochkonjunktur die Wirtschaft und die Gesellschaft prägte. Weil der Arbeitsmarkt ausgetrocknet war, holten die Thuner Bau- und Industrieunternehmen ab den 1960er-Jahren eine steigende Anzahl Arbeitskräfte aus dem Ausland.
Die Ölkrise von 1973 beendete diesen Boom; 1974 setzte eine Wirtschaftsflaute ein, die bis Ende der 1970er-Jahre anhielt. Die Zahl der Arbeitsplätze in der Industrie ging um rund zehn Prozent zurück. Viele kleine und mittlere Unternehmen mussten schliessen, ausländische Arbeiter verliessen das Land, Schweizerinnen und Schweizer wurden arbeitslos oder früher pensioniert.78
Bereits 1972 hatte die Stadt das Planungsamt und 1979 das Wirtschaftsamt geschaffen, um die Stadtentwicklung besser steuern zu können. Nach dem Einsetzen der Krise verfasste das Amt ein Wirtschaftskonzept für die Stadt Thun. Die Stadtregierung versuchte damit, die Rahmenbedingungen zu verbessern und die Wirtschaftskraft Thuns zu stärken. 1980 erschien die Publikation «Thun – Wirtschaftsraum mit Zukunft», in welcher die Stossrichtung der städtischen Wirtschaftsförderung formuliert wurde: Die Stadt wollte Gewerbe, Industrie und Handel fördern, Thun als regionales Einkaufszentrum stärken und den Geschäftstourismus ankurbeln. Mit zahlreichen Massnahmen engagieren sich die Stadtbehörden seither für gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen: Sie stellten im Schoren, im Bierigut in Allmendigen-Süd und im Gwatt Land für die Ansiedlung neuer Firmen zur Verfügung und lancierten Imagekampagnen für Thun. Im Aarefeld, auf dem Mühleplatz und später auf dem Selve-Areal und dem Ruag-Gelände koordinierte die Stadt die Planung. Die Ansiedlung der Firma Duscholux AG und die Eröffnung des Einkaufszentrums Oberland 1977 waren erste Erfolge dieser Politik. Duscholux verlegte den Hauptsitz nach Thun und stellt mit 200 Angestellten im Schoren Duschtrennwände her.79
Das Spital Thun auf einer Postkarte, um 1920. Am Sonnenhang nördlich der Altstadt entstand 1871–1873 zuerst der westliche Teil (links). Mit den Erweiterungen des Mittelbaus und des Ostflügels in den Jahren 1911–1914 wurde die Bettenzahl auf 72 verdreifacht. Das Gebäude musste 1983 dem Neubau des heutigen Spitals weichen.
1980/81 und 1985–1990 herrschte in Thun wie in der ganzen Schweiz wieder Vollbeschäftigung. Die Krise der 1990er-Jahre traf Thun jedoch besonders hart. Der Abbau von rund 1000 Arbeitsplätzen bei den Rüstungsbetrieben, die Schliessung der Selve und der Konkurs der Spar- und Leihkasse 1991 waren für die Stadt ein grosser Schock. Die Stadtregierung verstärkte ihre aktive Wirtschaftsförderung und konnte neue Firmen nach Thun holen, darunter einen Ableger der Eidgenössischen Materialprüfungsanstalt (Empa). Mit dem Ziel, die Region zu stärken, gründete die Stadt 1994 mit den umliegenden Gemeinden den Wirtschaftsraum Thun. Das Zusammengehen von Gemeinden, Wirtschaftsverbänden und grossen Firmen verhalf der Thuner Wirtschaft zu neuer Dynamik und trug dazu bei, die konjunkturelle und strukturelle Krise zu überwinden. Der Verlust der Arbeitsplätze in der Industrie konnte durch die Gründung und Ansiedlung von kleinen und mittleren Unternehmen kompensiert werden. Mit dem Bau des neuen Fussballstadions und dem Ausbau des Kultur- und Kongresszentrums stellte die Stadt neue Räume für Grossveranstaltungen und Kongresse bereit.80
Zwischen 1945 und 2008 veränderte sich die Thuner Wirtschaft stark. 1955 machten Gewerbe und Industrie rund 70 Prozent der Arbeitsplätze aus, 2008 noch gut ein Viertel. Dieser Rückgang war begleitet von einer Zunahme der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor, die jedoch in Thun später als in anderen Städten einsetzte. Besonders ab Ende der 1960er-Jahre nahmen die Arbeitsplätze im Detailhandel, in der öffentlichen Verwaltung sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen überdurchschnittlich zu. 2008 waren acht Prozent aller Erwerbstätigen in Thun im Gesundheitswesen engagiert. Dies ist typisch für eine Zentrumsgemeinde, in Bern waren es sogar 15 Prozent. Ein wichtiger Schauplatz dieser Entwicklung ist das Spital Thun. Es wurde 1873 mit 24 Betten eröffnet, 1914 entstand ein erster Erweiterungsbau, 1957 kam die Schwesternschule hinzu, 1965 das Bettenhaus; schliesslich errichtete das Spital 1984–1987 einen vollständigen Neubau. Dieser Ausbau der medizinischen Infrastruktur widerspiegelt sich auch auf dem Arbeitsmarkt.81
Erika Maurer, Mitarbeiterin der Gemein- deausgleichskasse, arbeitet 1984 an ihrem neuen Computer. Ab 1960 veränderten neue Technologien den Arbeitsalltag: Die Stadt nahm 1966 einen Magnetkarten-Computer in Betrieb, um die Steuerrechnungen und die Besoldung des Personals effizienter abwickeln zu können.
1984 führte die Stadtkanzlei die Textverarbeitung auf Computern ein, 1989 waren in der Stadtverwaltung 28 Personalcomputer im Einsatz.
Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts geriet Thun in den Sog der Agglomeration Bern. Dies zeigt sich an rund 4000 Menschen, die in der Region Thun wohnen, aber nach Bern zur Arbeit pendeln. Zudem fahren Thunerinnen und Thuner nach Bern, um spezielle Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, etwa im Bereich der höheren Bildung oder der Spitzenmedizin, aber auch für die Freizeit oder zum Einkaufen.82
Seit 1930 bildet Thun planerisch eine Agglomeration. Die enge Verflechtung mit den Umlandgemeinden ist auch Anfang des 21. Jahrhunderts ein wichtiges Merkmal der Stadt und ihrer Wirtschaft. Thun ist zudem in das schweize- rische Städtenetz eingebettet. Die Agglomeration belegte 2015 mit rund 80 000 Einwohnerinnen und Einwohnern und 45 000 Arbeitsplätzen Rang 18 der 50 Agglomerationen in der Schweiz. Ferner bestehen internationale Verflechtungen durch Firmen, Personen und Kundenbeziehungen, die für die Thuner Wirtschaft von hoher Bedeutung sind. Ein wichtiges Merkmal der Stadt und ihrer Wirtschaft blieb über die letzten zwei Jahrhunderte konstant: Thun ist bis heute ein zentraler Ort für sein (vor-)alpines Hinterland und das Tor zum Berner Oberland. Als Endpunkt der beiden Berner S-Bahn-Linien nach Freiburg und Langnau und dank der Autobahn A6 verbindet die Stadt das Oberland mit dem westlichen Mittelland.83
Karte der bedeutendsten und im Text erwähnten Betriebe in der Gemeinde Thun in den Jahren 1860–2015. Die Areale der Industrie- und Gewerbebetriebe sind rot eingefärbt, blau die Standorte der Dienstleistungsfirmen. Einige Unternehmen wechselten im Lauf der Zeit ihren Standort.
Die Grafik zeigt die maximale Zahl der Beschäftigten pro Betrieb in drei Zeitabschnitten. Innerhalb dieser Zeiträume schwankten die Zahlen der Betriebe zum Teil stark. In Klammern sind die Jahre der Produktion in der Stadt Thun angegeben.