Turnen macht fit fürs Vaterland
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand in Deutschland die Turnbewegung, die schon bald die Schweiz erreichte: In der Stadt Bern gründeten Studenten 1816 den ersten Turnverein der Schweiz. Das Turnen blieb bis nach dem Ersten Weltkrieg die dominierende Sportart, zu der gymnastische Freiübungen, Laufen, Übungen an Geräten und Bewegungsabläufe in Gruppenformation gehörten. Die Turnbewegung war eng verbunden mit liberal-nationalen Ideen; die kantonalen und eidgenössischen Turnfeste mit ihren Umzügen, Reden und Gesängen waren Teil der politischen Identitätsfindung der Schweiz. Das Eidgenössische Turnfest von 1855 integrierte erstmals das so genannte Nationalturnen, welches Schwingen und Steinstossen umfasste. Damit grenzte sich die schweizerische Turnbewegung von ihrem deutschen Ursprung ab.1
Am Oberländischen Bezirksturnfest, das 1910 in Thun stattfand, bildeten Mitglieder des Thuner Bürgerturnvereins mit Hilfe von Turngeräten und Holzleitern eine Pyramide. Solche Menschentürme waren beim Publikum jeweils sehr beliebt.
1839 gründeten acht junge Männer den ersten Thuner Turnverein. Als dieser 1866 an Überalterung litt, wurde er mit je einer Abteilung für Geräteübungen, Schwimmen, Fechten sowie National- und Kunstturnen neu lanciert. Ab 1911 nannte er sich Stadtturnverein. Die Turner zeigten ihre Fähigkeiten gerne vor Publikum und kombinierten ihren Sport mit andern Aktivitäten. So führten sie um 1870 gemeinsam mit der Schützenmusik mehrmals Theaterstücke auf, 1872 «unter freundlicher Mitwirkung hiesiger Damen» und mit anschliessender «Soirée dansante».2 Frauen waren auch anderweitig gefragt: Als 1885 ein kantonales Turnfest in Thun anstand, forderte das Organisationskomitee ganz besonders «die verehrliche hiesige Damenwelt, welche schon so oft der edlen Turnkunst und deren Vertretern und Trägern Ihre Sympathien auf’s Schönste dargebracht hat», zum Spenden von Preisen auf.3 Die Vereinsmitgliedschaft blieb jedoch vorerst reine Männersache.
Der Damenturnverein Thun zu Beginn der 1920er-Jahre auf einer unbeschrifteten und undatierten Fotografie.
Die Sportlerinnen und ihr Vorturner posieren in der 1909 erstellten Turnhalle des Pestalozzischulhauses.
Um 1900 wurde das turnerische Vereinsleben facettenreicher: 1896 entstand der Grütliturnverein (später Bürgerturnverein), der 1931 mit dem Turnverein Kaufleute und dem Stadtturnverein zum Turnverein Thun fusionierte. Bewegungsfreudige Strättliger fanden um 1900 im Turnverein Strättligen zusammen, der sich aus bescheidenen Anfängen als Quartierverein zu einem wichtigen Sportverein der Stadt entwickelte. 1921 gründeten einige Frauen und Männer den Sprech-Bewegungschor, den Vorläufer des Arbeiterturnvereins Thun. Ein erster Damenturnklub bildete sich 1901, was der «Tägliche Anzeiger» folgendermassen kommentierte: «Wir sind der Meinung, dass die geehrten Damen nichts, wie etwa vorurteilsweise gemeint wird, Unschickliches, sondern (...) ganz Vernünftiges unternehmen, wenn sie dem Klub beitreten.»4 Der Klub konstituierte sich 1910 als Verein, der allerdings nur bis 1913 bestand. 1922 wurde er als Teil des Stadtturnvereins reaktiviert und existierte bis 2012. Der Turnverein Strättligen schuf 1918 eine Damenriege, die von 1921–1929 inaktiv war, weil sich kein geeignetes Turnlokal fand. Der Bürgerturnverein besass ab 1921 eine Frauenriege. An ihrer ersten Sitzung zeigte sich, dass die Schicklichkeit der Turnerinnen weiterhin ein Thema war: Fräulein Mannhart, die gerne mitgemacht hätte, wurde nicht als Mitglied aufgenommen, «ihres zweifelhaften Rufs wegen».5
Im 20. Jahrhundert erwuchs den Turnvereinen Konkurrenz durch andere Sportvereine, die modernere Sportarten anboten. Deshalb bildeten sie in der Zwischenkriegszeit Riegen für ältere Vereinsmitglieder, Jugendliche und Frauen; sie erweiterten ihr Angebot durch Ringen, Leichtathletik, Hand-, Korb- und Faustball und führten Turnfahrten und Skitage durch. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen weitere Sportarten wie Volleyball, Orientierungslauf, Trampolinspringen, Rugby, Baseball und rhythmische Gymnastik sowie Fitness und Mutter-Kind-Turnen hinzu. Die Leichtathletikabteilungen des Turnvereins Thun und der Gymnastischen Gesellschaft schlossen sich 1978 zum Leichtathletikverein Thun zusammen, von dem sich 1987 das Laufteam All Blacks Berner Oberland abspaltete.6
Die Turnerinnen des Damenturnvereins Thun betreten am Oberländischen Frauenturntag vom 29. Juni 1958 das Lachenstadion durch das so genannte Olympiator. Dieses Tor mit den Olympiaringen und dem Thuner Wappen steht architektonisch in der Tradition der repräsentativen Wettkämpferportale von grossen Stadien wie dem Panathinaiko-Stadion, das 1896 in Athen für die ersten modernen olympischen Spiele errichtet wurde. Das multifunktionale Sportstadion Lachen wurde 1952 in Betrieb genommen.