Kindergärten statt Kleinkinderschulen
1873 entstand in Thun der erste Kindergarten des Kantons Bern, der dem pädagogischen Konzept Friedrich Froebels (1782–1852) verpflichtet war. Den Anstoss zur Gründung dieses Kindergartens gab die Sektion Thun der Gemeinnützigen Gesellschaft. Sie beauftragte im Januar 1872 den langjährigen Vorsteher der Mädchensekundarschule Thun, Johann Jakob Lämmlin (1838– 1910), einen öffentlichen Vortrag über die Froebel’schen Kindergärten zu halten. Darin kritisierte Lämmlin die Kleinkinderschulen, wo Lehrerinnen ohne Ausbildung den Kindern Schulstoff zu vermitteln versuchten, der deren Alter und Entwicklung überhaupt nicht entspreche. Eine erste private Kleinkinderschule für Buben und Mädchen bis zum sechsten Altersjahr hatte in Thun bereits 1829 ihre Tore geöffnet. Im Juli 1838 war die erste öffentliche Kleinkinderschule vorerst als Provisorium im alten Sigristenhaus auf dem Schlossberg eingerichtet worden. Lämmlin forderte für den Kindergarten eine ausgebildete Kindergärtnerin, Klassengrössen von maximal 30 Kindern und nur zweimal zwei Stunden Unterricht pro Tag. Nach Froebels Idee nahm ein Kindergarten Buben und Mädchen ab dem dritten, besser erst vierten Altersjahr auf. Die Kinder sollten sich draussen bewegen und drinnen basteln, zeichnen, nähen, spielen, singen und den Geschichten der Kindergärtnerin zuhören.12
Lämmlins Vortrag zeigte Wirkung. Mehrere hundert Männer und Frauen traten dem neu gegründeten Kindergartenverein bei, der einen Kindergarten im Bällizschulhaus eröffnete. Lämmlin gelang es, eine Kindergärtnerin aus St. Gallen zu verpflichten, wo es bereits eine entsprechende Bildungsanstalt gab. Der Kindergarten, der auch Freiplätze für arme Kinder anbot, erhielt 1874 erstmals einen Beitrag der Stadt. Ab 1904 war er an der Hinteren Gasse (heute Berntorgasse) untergebracht, 1909 zog er auf das von der Gemeinde erworbene Grabengut um. 1924 besuchten durchschnittlich 120–130 Kinder den Vorschulunterricht in mehreren Klassen. Zahlreiche weitere Kindergärten entstanden im Verlauf des 20. Jahrhunderts in anderen Stadtquartieren, jener in Goldiwil, der in den ersten zehn Jahren als Provisorium geführt wurde, erst 1970. Die Kindergärten wurden von der Gemeinde anfänglich subventioniert, dann – wie in Strättligen 1927 – von ihr übernommen und als Gemeindeinstitution betrieben. In den 1990er-Jahren besuchten immer mehr Kinder den freiwilligen zweijährigen Kindergarten. Seit 2013 sind im Kanton Bern die zwei Kindergartenjahre Teil der elfjährigen obligatorischen Schulzeit.13