Das Ende der Helvetik: Neuorganisation und Mediationsverfassung
Das politische System der Helvetik war alles andere als stabil. Im Wesentlichen verliefen die Konflikte entlang des Gegensatzes zwischen den Unitariern, den Anhängern der zentralistischen Helvetischen Republik, und den Föderalisten, den Verfechtern der kantonalen Souveränität. Der erste Staatsstreich ereignete sich bereits im Januar 1800, ihm folgten drei weitere, bis Napoleon am 30. September 1802 wieder französische Truppen einmarschieren liess und Abgeordnete des helvetischen Senats und der Kantone nach Paris einberief, an die sogenannte Consulta, um der Schweiz eine neue Verfassung zu geben.
Passierschein, ausgestellt auf Karl Koch, für dessen Reise als helvetischer Deputierter an die Consulta in Paris (1802).
An die Consulta reiste auch Karl Koch, der in Thun eine grosse Anhängerschaft hatte und den Kanton Oberland erhalten wollte. Zwei gleichgesinnte Vertreter aus dem Kanton Oberland begleiteten ihn. Koch sprach sich in einem an Napoleon gerichteten «Mémoire» für den Erhalt des unabhängigen Kantons Oberland aus. Er argumentierte, dass es notwendig sei, den mächtigen Kanton Bern zu schwächen, und dass es Unterschiede gebe zwischen dem Berner und dem Oberländer Volkscharakter. Sein Ziel erreichte er aber nicht.41
Am 19. Februar 1803 wurde die von Napoleon entworfene Mediationsakte, die eine neue Verfassung beinhaltete, unterschrieben. Damit war die Helvetische Republik endgültig beerdigt und mit ihr der Kanton Oberland, der de facto bereits seit dem Verfassungsentwurf von 1801 nicht mehr existierte. Die Eidgenossenschaft war wieder föderalistisch organisiert, die Kantone waren weitgehend autonom. Die Tagsatzung wurde erneut zum höchsten politischen Organ, nun präsidiert von einem Landammann der Schweiz. Die neue Berner Kantonsverfassung enthielt formal die Gleichberechtigung von Stadt und Land, indem die höchste Gewalt beim Grossen Rat lag. Das Wahlverfahren war kompliziert und restriktiv: Wahlberechtigt waren die männlichen Bürger der bernischen Gemeinden, die seit einem Jahr an einem Ort ansässig, militärdiensttauglich und, falls unverheiratet, mindestens 30 Jahre alt waren. Verheiratete durften schon mit 20 Jahren wählen. Zudem war das Wahlrecht dem Zensus unterworfen, man musste also ein minimales Vermögen ausweisen, um wahlberechtigt zu sein. Das passive Wahlrecht wurde bezüglich Alter und Mindestvermögen noch restriktiver gehandhabt. Die männliche Bevölkerung der verschiedenen Kantonsteile wurde in 65 sogenannte Wahlzünfte aufgeteilt, die je einen Grossrat aus ihrer eigenen Zunft direkt wählen und vier weitere aus einer anderen Wahlzunft vorschlagen durften. Von den vorgeschlagenen 260 Kandidaten schied danach die Hälfte durch das Los aus.
Radierung von Friedrich Rosenberg (1758–1833). Rechts neben dem Gasthof Freienhof ist der Zeitglockenturm zu sehen, der 1807 abgebrochen wurde.
Thun war die sechste Zunft des Bezirks Oberland und 223 Männer waren wahlberechtigt. Von den 327 erwachsenen männlichen Thunern, die 1798 den Eid auf die helvetische Regierung abgelegt hatten, waren also rund 68 Prozent wahlberechtigt. Es fällt besonders auf, dass die Gruppe der 20- bis 30-Jährigen mit nur 12 Wahlberechtigten stark untervertreten war.42 Offenbar waren die wenigsten jungen Männer unter 30 schon verheiratet. Auch spielte der Zensus, das notwendige Mindestvermögen, eine Rolle. Bei den ersten Wahlen 1803 wurden im ganzen Kanton 121 Berner Burger in den 195 Mitglieder zählenden Grossen Rat gewählt. 159 der 205 anwesenden Wahlberechtigten ordneten für Thun den Berner Patrizier Niklaus Friedrich von Mülinen, Gutsbesitzer in Hofstetten, ab. Auch für die Auswahl der weiteren Grossräte schlugen die Thuner Berner Burger vor. Karl Koch, der damals schon in Bern lebte, wurde von den Wahlzünften Köniz und Saanen in den Grossen Rat bestellt.
Der Kanton bestimmte für jeden der 22 Amtsbezirke einen Oberamtmann. Der für den Amtsbezirk Thun zuständige erste Oberamtmann Viktor von Wattenwyl (1745–1822) und seine Nachfolger residierten wiederum im Schloss. Auf kommunaler Ebene wählten Vertreter der fünf Thuner Gesellschaften den Kleinen Stadtrat, der aus 13 Mitgliedern bestand. Gewählt wurden mehrheitlich Burger, die in der Zeit vor 1798 oder während der Helvetik Regierungserfahrung gesammelt hatten. Der Kleine Stadtrat wählte sodann den Grossen Stadtrat. Die alte Unterscheidung in Burger und Hintersässen sowie ab 1804 die Bezahlung eines Hintersassengeldes wurden wieder eingeführt.43 Weil 1803 im Wesentlichen die Eliten der Zeit vor 1798 wieder an die Macht kamen, wird die Mediationszeit in der Geschichtsschreibung auch als «kleine Restauration» bezeichnet.44