Der Fotograf Jean Kölla posiert um 1900 mit Frau und Kind im Automobil vor seinem Fotogeschäft an der Allmend- strasse, in der Nähe der Kaserne.
Von lärmenden Benzin-Kühen und fauchenden Ungetümen
Andrea BühlerDie ersten Automobile tauchten im ausgehenden 19. Jahrhundert auf den Strassen auf. Sie sahen aus wie Kutschen, hatten weder Dach noch Scheinwerfer und galten als Spielzeuge der Reichen. Der technikbegeisterte und fortschrittsgläubige Fotograf Jean Kölla (1860–1929) besass in Thun das erste Auto. Am 8. Juli 1896 berichtete das «Thuner Geschäftsblatt»: «Seit Sonntag schwirrt in den Strassen Thuns eine Hrn. Photograph Kölla gehörende Benzin-Motor-Kutsche herum, die grosse Bewunderung beim Publikum erregt. Das elegante Fuhrwerk hat zwar nur Platz für zwei Personen, rast aber mit denselben mit unheimlicher Geschwindigkeit davon. Kaltes Blut, eine sichere Hand zur Führung und Kenntnis des Motors sind jedenfalls für den Lenker notwendig.»36
Als Verkehrsmittel waren die motorisierten Strassenfahrzeuge aber noch lange nicht akzeptiert. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung stand dem Automobil ablehnend gegenüber; es kann sogar von einer eigentlichen Automobilfeindschaft gesprochen werden. Der Widerstand hatte verschiedene Ursachen: Man beklagte sich über den Staub, den die Autos aufwirbelten, und störte sich an deren Lärm. In Leserbriefen wurden die Fahrzeuge als fauchende Ungetüme bezeichnet und im «Geschäftsblatt» vom 1. August 1912 konnte man lesen, dass wieder eine «Benzin-Kuh» die Abend- und Morgenruhe störe. Der Lärm wurde gar mit dem «zehnfach verstärkten Gebrüll einer geblähten Kuh» verglichen und der Schreiber bat die Polizeiorgane, «diesem Tonkünstler das Maul zu stopfen.»37
Bald vermeldeten die Thuner Zeitungen erste durch Autos verursachte Unfälle. So berichtete der «Tägliche Anzeiger» am 6. November 1902, dass ein Einspännerfuhrwerk beim Lauitor kurze Zeit ohne Aufsicht gestanden sei, als sich ein Auto von Hofstetten her genähert habe. «Durch das Gerassel desselben scheute das Pferd, ein Rappe mit Feuer, nahm Reissaus und sprang bei Herrn Schallenberger, Coiffeur in die Montre (Schaufenster), ohne indessen weiteren Schaden zu nehmen.» Allerdings wurden drei Schaufensterscheiben zertrümmert.38 Die Unfälle bildeten denn auch den wichtigsten Kritikpunkt an den Autos. Der «Tägliche Anzeiger» forderte schon 1901, dass für die ganze Stadt die Temporegel «im Schritt» gelten sollte und die Autos mit Nummern zu versehen seien, um die Lenker zu identifizieren.
Grössere Autofahrten kündigte die Polizeikommission im Voraus an, damit die Bevölkerung vorsichtig war und keine Kinder unbeaufsichtigt auf der Strasse spielten. Trotzdem häuften sich die Unfallmeldungen in der Zeitung. Im Lauf der nächsten Jahrzehnte eroberte das Auto die Strasse und beschnitt die bisherige Freiheit der Menschen im Strassenraum immer stärker. Der motorisierte Verkehr drängte die Fussgängerinnen und Fussgänger, die Velofahrerinnen und -fahrer und die spielenden Kinder an den Rand, und ihr Verhalten wurde ab den 1930er-Jahren zunehmend durch Reglementierungen und Massnahmen zur Verkehrserziehung eingeschränkt. Dadurch büsste die Strasse ihre Funktion als Lebensraum ein und wurde zum reinen Transitraum.39