Ein umweltpolitischer Wandel?
Die rasche Ausdehnung der bebauten Flächen in den Agglomerationen führte zu einer Zunahme des motorisierten Individualverkehrs, was mit Lärmbelastung, Luftverschmutzung und der Überlastung von Strassen einherging. In den 1970er-Jahren setzte ein umweltpolitischer Wertewandel ein, der zu einer kritischeren Beurteilung des Verkehrs und seiner Nebenwirkungen führte. In Thun forderte die Sozialdemokratische Stadtratsfraktion 1981 eine bessere Vorbereitung der Verkehrsplanung. Die Strassenprojekte würden oft ungenügend vorberaten, obwohl es dabei «doch nicht nur um technische Probleme (...), sondern um raumordnerische Massnahmen erster Güte» gehe.47
Die neue Wahrnehmung der Verkehrsproblematik schlug sich auch in Forderungen nach einem fussgängerfreundlichen Stadtzentrum nieder. 1972 hielt ein Stadtrat fest, dass sich die Innenstadt kaum zum Einkaufsparadies entwickle, wenn «der Fussgänger (...) immer mehr vom rollenden Verkehr in die Enge getrieben wird».48 Mehrheitlich waren es die linksgrünen Parteien, die weniger Parkplätze in der Innenstadt und autofreie Zonen forderten. Die IGT wehrte sich dagegen, oft unterstützt von den bürgerlichen Parteien. 1986 meinte sie dazu im «Thuner Tagblatt»: «Zweck des Zentrums ist primär der Austausch von Gütern und Dienstleistungen und erst in zweiter Linie Befriedigung kultureller und sozialer Bedürfnisse.»49 Die Stadt erarbeitete in den folgenden Jahrzehnten verschiedene Kompromisslösungen für den Innenstadtverkehr, doch eine autofreie Flaniermeile realisierte sie bislang nur ansatzweise.
Weil der grösste Teil des Stadtgebiets flach ist, avancierte das Velo in Thun schnell zu einem beliebten Verkehrsmittel. Allerdings mangelte es ab den 1950er-Jahren an Abstellplätzen in der Innenstadt und rund um den Bahnhof. Die Fotografie von Hans Dubach zeigt einen Stadtpolizisten, der am Grossstadtmärit 1977 versucht, etwas Ordnung ins Chaos der parkierten Fahrräder im Bälliz zu bringen.
Im ausgehenden 20. Jahrhundert wurden in der Thuner Verkehrspolitik verschiedene Strategien zur Reduktion des motorisierten Verkehrs diskutiert, zum Beispiel Massnahmen, die das Umsteigen auf den öffentlichen Verkehr und den Langsamverkehr fördern sollten. Die im Verkehrsrichtplan von 1990 festgehaltene Idee, die Verkehrsmenge zu stabilisieren, indem das Strassennetz nicht weiter ausgebaut wird, entsprach zwar dem Zeitgeist, war aber 2002 in der «Gesamtverkehrsstudie Agglomeration Thun» schon kein Thema mehr. Im Bereich Verkehrssicherheit führte Thun 1989 auf dem Bahnhofplatz erstmals Tempo 30 ein – eine Massnahme, welche sich trotz anfänglicher Opposition der Autopartei bewährte und immer häufiger auch in den Aussenquartieren zur Anwendung kam. Auf dem 2005 neu eröffneten Bahnhofplatz und 2011 bei der Neugestaltung der Marktgasse zwischen Guisan- und Sternenplatz verwendete die Stadt bauliche Gestaltungselemente, die das Nebeneinander von Fussgängerinnen und Fussgängern, Velo- und Autofahrenden verbessern sollten.
Über Agglomerationsprogramme koordiniert der Kanton Bern seit 2007 die Siedlungs- und Verkehrsplanung, die nun vermehrt städtebauliche und umweltrelevante Aspekte miteinbezieht und die Koexistenz der verschiedenen Verkehrsträger fördert. Allerdings investierte die öffentliche Hand in Thun mit dem Bau des Bypasses Thun Nord und von Parkhäusern weiterhin in eine Verkehrsinfrastruktur, die in erster Linie dem motorisierten Verkehr dient. Weil in der Agglomeration Thun 60 Prozent der täglich zurückgelegten Wege kürzer als fünf Kilometer sind und zu einem Drittel mit dem Auto zurückgelegt werden, besteht im Bereich Langsamverkehr ein beachtliches Wachstumspotenzial. Obwohl die Stadt seit den 1970er-Jahren Fahrradwege baut und ab 1987 den Veloverkehr explizit förderte, schnitt sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts in mehreren Umfragen zur Velofreundlichkeit der Schweizer Städte nur mittelmässig ab. Im Vergleich zu den anderen Berner Städten landete Thun 2014 vor Bern auf dem zweitletzten Platz.50
Um den Fuss- und Veloverkehr sowie das Umsteigen auf den öffentlichen Verkehr voranzubringen, lancierte eine parteienübergreifende Gruppierung 2013 die sogenannte Städte-Initiative, die im Dezember 2014 vom Thuner Stadtrat knapp angenommen wurde. In der Folge arbeitete die Stadt das Reglement über eine nachhaltige städtische Mobilität aus, welches am 1. Januar 2017 in Kraft trat. Es geht zwar von der freien Wahl der Verkehrsmittel aus, schreibt aber auch fest, dass die Stadt für «direkte, sichere, attraktive und zusammenhängende»51 Fussweg- und Veloverkehrsverbindungen zu sorgen hat. Zudem arbeitet die Stadt seit 2016 an einem neuen Gesamtverkehrskonzept, das neben dem motorisierten auch den öffentlichen Verkehr und den Langsamverkehr behandeln soll.52