Gegen Schieber und Ausbeuter: der Landesstreik 1918
Im Spätherbst 1918 schien die Schweiz vor einer bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzung zu stehen. Am Kulminationspunkt dieser härtesten Kraftprobe im modernen Bundesstaat, dem vom 12. bis 14. November dauernden Landesstreik, standen insgesamt 110000 Soldaten gegen die streikende Arbeiterschaft im Einsatz. Den Ausschlag für den Streik gab die am 5. November erfolgte militärische Besetzung Zürichs. Regierung, Armeeleitung und die bürgerliche Rechte suchten die Verschärfung des Konflikts und die Auseinandersetzung mit der streikwilligen Arbeiterschaft. Diese reagierte mit Gegenaktionen, die in den Landesstreik mündeten. Die Auseinandersetzung war eine Folge des Ausschlusses der Linken aus dem politischen Entscheidungsprozess.
Die Linke schloss ihre Reihen mit einem klassenkämpferischen Diskurs, in dem sie die im Ersten Weltkrieg erfahrene Massenverarmung mit dem Wirken des enthemmten Kapitals in Verbindung brachte. In der «Berner Tagwacht» brandmarkten die Thuner SP und Gewerkschaften am 11. Dezember 1918 die «unverantwortlichen Hetzer der Hochfinanz» als «Schieber und Ausbeuter der Arbeiter, des Mittel- und Gewerbestandes». Gleichwohl waren die im Landesstreik erhobenen Forderungen letztlich moderat und zeugten eher vom Willen, soziale und politische Gerechtigkeit zu erfahren, als von einem ernsthaft beabsichtigten politischen Umsturz. Allerdings gab es innerhalb der Linken in der Folge eine Flurbereinigung: Die radikale Linke spaltete sich 1920 von der SP ab und gründete 1921 die Kommunistische Partei.45
Arbeiterinnen kontrollieren Stanzteile in einer Halle der Selve. Will man der Datierung der Fotografie Glauben schenken, wurde am 13. November 1918 in dieser Fabrik gearbeitet. Zwar standen nicht alle Betriebe während des Streiks still. Jedoch war die Selve laut einem Bericht der Metallarbeitergewerkschaft während des Streiks geschlossen.
Während des Streiks rückten Oberländer Infanteristen, Genfer und Waadtländer Truppen sowie Landsturmkompanien aus der Umgebung in Thun ein. Laut Oberstkorpskommandant Eduard Wildbolz (1858–1932) sollten hier vor allem die militärischen Anstalten gesichert und Arbeitswillige aus den Aussengemeinden geschützt werden. Die Thuner SP und die Gewerkschaften übten Kritik am Truppenaufgebot und warfen nach dem Streik die Frage auf, ob man mit aller Gewalt ein Blutbad unter der Arbeiterschaft habe anrichten wollen, zumal es an Provokationen seitens des Militärs, speziell der «Waadtländer Kosaken», nicht gefehlt habe.46 Dies war nicht einfach Polemik, auch Oberstkorpskommandant Wildbolz stellte fest, dass beim Platzkommando Thun «eine gewisse Aufregung und Neigung zur Scharfmacherei in richtige Bahnen» gelenkt werden musste.47 Laut «Thuner Tagblatt» waren aber erst am 13. November, als «die Stimmung erregter geworden war», «Patrouillen mit ihren grauen Stahlhelmen» in den Strassen Thuns zu sehen. Sie verschufen «sich durch energisches Vorgehen den nötigen Respekt».
Das Platzkommando Thun, die militärische Befehlsstelle in Thun während des Landesstreiks, verbot am 14. November 1918,
also am letzten Tag des Streiks, die Streikposten, die Arbeitswillige von der Arbeitsaufnahme abhielten.
Die Arbeit stand während des Streiks in fast allen Fabriken still, auch die Bahn war stillgelegt. Streikposten waren etwa vor den eidgenössischen Betrieben postiert. Die Zeitungen erschienen nicht oder in erheblich reduzierter Form. Am 13. November bildete sich ein mit Vertretern der bürgerlichen Parteien und «wirtschaftlichen Gruppen» besetztes Komitee, das unter anderem die Herausgabe einer Zeitung für das Oberland sicherstellen wollte. Parallel dazu bildete sich eine Bürgerwehr. In «heller patriotischer Begeisterung» hätten sich einige hundert Bürger zu einer Volkswehr vereinigt, um Thun vor bolschewistischen Anschlägen zu schützen, stand dazu am 16. November 1918 im «Thuner Tagblatt».48
Am 13. November forderte der Bundesrat schliesslich den bedingungslosen Streikabbruch. Die Streikleitung, das Oltener Aktionskomitee, das die wichtigsten Gewerkschafts- und SP-Funktionäre vereinigte, fügte sich aus Furcht vor der Niederschlagung des Streiks durch die Armee. Am 15. November wurde die Arbeit fast überall wieder aufgenommen. Trotzdem gab es für die Arbeiterschaft Erfolge zu verzeichnen, so eine massive Arbeitszeitverkürzung, die Bereitschaft der Exportbranche zu weitgehenden Abkommen mit den Gewerkschaften und die Zustimmung der Bundesbehörden, die Gewerkschaftsvertreter in Entscheidungsprozesse einzubeziehen.49