«Bolschewismus oder Demokratie?» – Die Wahlen 1918
Kaum war der Landesstreik vorüber, standen in Thun die ersten Wahlen in das neue Stadtparlament und den Gemeinderat an. Eine direkte Folge des Streiks war die Verschiebung des Wahltermins vom 1. auf den 15. Dezember 1918. Alarmismus und Verunglimpfung des politischen Gegners kennzeichneten die Kampagnen. Die SP zog alleine in den Wahlkampf; gegen sie stand der bäuerlich-bürgerliche Nationale Block, bestehend aus der FDP, der Jungfreisinnigen Vereinigung, dem Handwerker- und Gewerbeverband, dem Handels- und Industrieverein, dem Verband der Festbesoldeten, der Landwirtschaftlichen Genossenschaft, dem Katholischen Männerverein – und den Grütlianern. Deren Präsenz auf der «stockbürgerlichen Liste» sei, so die «Berner Tagwacht», ein Zeichen politischer Verlotterung, seien doch die Vertreter des Nationalen Blocks, zumal dessen rechter Flügel, «rassenreinste Arbeiterverächter» und «Profitpatrioten».50
«Proletarier aller Länder, vereinigt euch!» Eine Fahne mit dem berühmten Schlachtruf aus dem Kommunistischen Manifest von 1848 und dem Konterfei von Karl Marx wehte auch in Thun. Die abgebildete Fahne (Vorder- und Rückseite) von 1918 gehörte dem 1897 gegründeten Arbeiterverein Strättligen. Sie wurde an Umzügen zum 1. Mai und an Demonstrationen mitgetragen. Bürgerlich gesinnte Thuner dürften darin einen weiteren Beweis für die umstürzlerische Gesinnung der sozialdemokratischen Arbeiterschaft erkannt haben.
Der politische Gegner teilte ebenfalls aus: Der Nationale Block sah sich als Bollwerk gegen den Ansturm der revolutionären Sozialdemokratie und gegen ein rotes Thun. Das «Thuner Tagblatt» setzte die Thuner Wahlen gar als Teil des «gewaltigen Ringens um die politischen Ideen der Zukunft» und mit der rhetorischen Frage «Bolschewismus oder Demokratie?» in Szene.51 Das Blatt versuchte mit der Verwendung von Begriffen wie «Herrschaft der Arbeiterräte», die Bürger mit der damit verbundenen Vorstellung einer drohenden Revolution zu mobilisieren. Der Begriff verwies auf die russische Oktoberrevolution von 1917 und die damals aktuelle Novemberrevolution von 1918 in Deutschland, in der Arbeiter- und Soldatenräte aktiv waren. Übte das «Thuner Tagblatt» Kritik an der Realpolitik der SP Thun, war die Weltrevolution jedoch wieder weit weg: So habe die SP bei der Thuner Bahnhofangelegenheit einen Personentunnel verhindert mit dem Argument, im Seefeld lebe die Hochfinanz, die das selber finanzieren könne.52
Bei einer Stimmbeteiligung von 81,5 Prozent errang der Nationale Block 19 von 30 Sitzen. Für die Wahlen in den Gemeinderat vom 21./22. Dezember 1918 verzichteten die Parteien auf einen Wahlkampf. Der Nationale Block gewann fünf Sitze und das Stadtpräsidium, die SP zwei Sitze. Ab 1927 besetzte die SP drei Sitze; damals löste der Freisinnige Eduard Amstutz (1873–1965) seinen Parteikollegen Paul Kunz, der demissioniert hatte, im Stadtpräsidium ab; Kunz kehrte Anfang 1939 wieder ins Amt des Stadtpräsidenten zurück.53