In Thun weht die rote Fahne – die SP-Mehrheit 1943–1950
Die SP errang Ende 1942, mitten im Krieg, die Mehrheit im Gemeinderat. Ihre Themen Wohnungsbau, Sozialfürsorge und Arbeitsbeschaffung waren aktuell und stiessen bei den Wählern auf Resonanz. Ende 1946 schaffte die SP zusätzlich im Stadtrat eine knappe Mehrheit und beherrschte somit bis 1950 die Legislative und die Exekutive. In der Schweiz wie in Europa wogten «die Wellen nach links», erklärte sich das «Oberländer Tagblatt» das Ergebnis.66 In beiden Legislaturen aber stellten die Bürgerlichen zwei Gemeinderäte und den Stadtpräsidenten, den Freisinnigen Paul Kunz.
Die Jahre der roten Mehrheit zwischen 1943 und 1950 seien von «heftigen und bitteren Kämpfen» geprägt gewesen, die Bürgerlichen hätten Mühe bekundet, sich mit der linken Mehrheit abzufinden, und erschwerten ihr das Regieren, wo es nur ging, kommentierte die «Berner Tagwacht» im Rückblick vier Jahrzehnte später.67 Das «Oberländer Tagblatt» lobte hingegen das Engagement der bürgerlichen Opposition zur «Fortentwicklung unserer Stadt» und ihr Ringen um eine gemässigte Politik auch mithilfe direktdemokratischer Instrumente.68 In der ersten Legislatur brauchte die SP noch Verbündete im Stadtrat. Im genossenschaftlichen Wohnungsbau kooperierte sie beispielsweise mit den Freiwirtschaftern. Auch der freisinnige Stadtpräsident Paul Kunz sei im Stillen mit dieser Politik einverstanden gewesen, meinte der damalige SP-Gemeinderat Fritz Lehner.69
Gleichwohl waren die politischen Verhältnisse stark polarisiert. Dies zeigte sich im Konflikt um das Reizsymbol der roten Fahne am Thuner Rathaus, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Gemüter bewegte. Der Hauswart im Rathaus, gemäss Lehner «ein eiserner Genosse», hisste angeblich am Wahltag 1946 die rote Fahne am Regierungsgebäude. Die Bürgerlichen, die damals mit einer Einheitsliste aus BGB, FDP, EVP, Freiwirtschaftern und dem seit 1943 im Stadtrat vertretenen Landesring der Unabhängigen (LdU) nun auch in der Legislative die Mehrheit verloren hatten, hätten diese Aktion als Kampfansage aufgefasst.
Das Inserat der bürgerlichen Parteien im «Oberländer Tagblatt» von 1950 ruft die Wählerschaft auf, die Stadtratsliste «Für ein freies Thun» zu wählen, auf der alle Parteien ausser der SP und der EVP figurierten. Es galt, die sozialdemokratische Mehrheit in Exekutive und Legislative zu brechen. Einmal mehr diente das Reizsymbol der roten Fahne am Rathaus als Aufhänger. Für die Bürgerlichen gehörten allein die Schweizerfahne, die Berner und die Thuner Fahne an das Rathaus.
Noch mehr Staub wirbelten die Auseinandersetzungen um die rote Fahne Ende der 1940er-Jahre auf. Laut «Oberländer Tagblatt» nahm der Gemeinderat im Frühling 1949 eine von der SP geschenkte rote Fahne entgegen, nachdem der Regierungsrat verboten hatte, eine solche auf Kosten der Gemeinde zu erwerben. Damit verstosse der Gemeinderat gegen das Verbot des Regierungsrats, so der Berichterstatter des «Tagblatts», hätte dieser doch damit zu verstehen gegeben, dass das Hissen dieser Fahne am Rathaus ein undemokratischer Akt sei. Trotzdem liess der Gemeinderat in diesem und im nächsten Jahr das Rathaus am 1. Mai mit der roten Fahne, einer Schweizer Fahne und einer Berner Fahne beflaggen. Das «Oberländer Tagblatt» befand dazu empört, die «rote Fahne der internationalen Revolution» werde damit «unsern Symbolen von Stadt und Staat» gleichgesetzt.70 Die rote Fahne verkörperte für die Bürgerlichen alles, was ihnen an der sozialdemokratischen Mehrheit missfiel: Klassenkampf, Revolution, Internationalismus.
Geschichten wie diese trafen den politischen Nerv, da die Furcht vor kommunistischen Umtrieben im Innern durch die Entwicklungen in Osteuropa wuchs. Als die Partei der Arbeit (PdA), die der äusseren Linken angehörte, vor den Grossratswahlen von 1950 eine Wahlempfehlung für die Kandidaten der Thuner SP abgab, war dies ein hochwillkommener Anlass, um in der Wählerschaft antikommunistische Reflexe zu aktivieren. Im «Oberländer Tagblatt» wurde gespottet, die SP-Kandidaten seien offenbar extrem genug, um von Kommunisten unterstützt zu werden. Die SP und die Gewerkschaften schalteten daraufhin ein Inserat in derselben Zeitung, in welchem sie sich von dieser Empfehlung distanzierten.71
Um die Sozialdemokraten von der Macht zu verdrängen, boten die Bürgerlichen an den Thuner Wahlen von Ende 1950 alle Kräfte auf und errangen den erhofften Wahlsieg mit der sogenannten «Liste für ein freies Thun» aus BGB, FDP, LdU und der Liberalsozialistischen Partei, der Nachfolgerin der Freiwirtschafter. Die bürgerlichen kleinen und mittleren Parteien bestimmten das politische Leben in Thun bis 1970. Dazu zählten alle Parteien im Stadtrat ausser der SP, ab 1958 auch die Christlichsoziale Volkspartei (ab 1971 Christlichdemokratische Volkspartei CVP), während die Liberalsozialistische Partei aus der Thuner Politiklandschaft verschwand. 1970 zogen die bürgerlichen Parteien mit dem Argument in den Wahlkampf, dass die mittleren und kleineren Parteien in den vergangenen Jahren erfreulich und zum Wohle der Stadt zusammengearbeitet hätten.72