Thun als ein Zentrum während des liberalen Umbruchs
Als es zu Beginn der 1830er-Jahre in Bern zum liberalen Umbruch kam, herrschten in der Eidgenossenschaft besonders seit der französischen Julirevolution von 1830 turbulente Zeiten. In etlichen Kantonen fielen aristokratische Regime in liberalen Staatsstreichen. Damit brach die Regeneration an, die nach dem Sonderbundskrieg, einem relativ unblutigen Bürgerkrieg, 1848 in der Gründung des heutigen Schweizer Bundesstaates mündete.4 Die Liberalen im Kanton Bern forderten das Ende der patrizischen Herrschaft sowie eine neue Verfassung, auf deren Basis eine repräsentative Demokratie aufgebaut werden konnte. Die Berner Regierung geriet im Laufe des Jahres 1830 unter wachsenden Druck, denn auf dem Land und besonders in den Landstädten fielen die liberalen Forderungen auf fruchtbaren Boden. Die Regierungsgegner agitierten geschickt mit Flugschriften und an Versammlungen. Zudem bot der Liberalismus den zurückgesetzten landstädtischen Honoratioren die Chance, sich gegenüber der privilegierten Hauptstadt zu behaupten.
Auch die Stadt Thun litt unter dem Verlust ihrer in der Helvetik gewonnenen politischen Bedeutung, der ihrer wirtschaftlichen Prosperität zuwiderlief. Thun war denn auch eines der wichtigsten oppositionellen liberalen Zentren im Oberland. Aktiv waren zu dieser Zeit beispielsweise die Familie Mani, insbesondere Johannes Mani (1771–1838), sowie Johann Jakob Knechtenhofer (1790–1867) und Carl Friedrich Ludwig Lohner (1786–1863). Ende 1830 waren die Thuner grossmehrheitlich für die Anliegen der liberalen Bewegung gewonnen.5
Die patrizische Berner Regierung ergriff die Flucht nach vorne und erklärte sich am 6. Dezember 1830 bereit, Bittschriften entgegenzunehmen. Aus dem Amt Thun ergingen 25 solche Schriften, 22 davon wandten sich gegen jede Änderung der Verfassung und gegen jeden Regierungswechsel – und formulierten dennoch Wünsche materieller Art und lokaler Natur. Die Bittschriften der Burger von Thun, Steffisburg und Strättligen trugen hingegen Forderungen einer Versammlung vor, die am 20. Dezember 1830 im Gwatt stattgefunden hatte. Laut der Bittschrift vom 23. Dezember 1830 wollten die Thuner Burger, die vom aus Frankreich herüberleuchtenden «Strahl der Freyheit»6 illuminiert waren, die geltende Verfassung nicht sofort ändern. Dennoch forderten sie die Aufhebung der politischen Privilegien des Stadtberner Patriziats und eine angemessene Vertretung der Landschaft im Grossen Rat. Zudem plädierten sie für liberale Anliegen wie die Gewaltentrennung, die Pressefreiheit oder die Öffentlichkeit der Verhandlungen.7
Kiste mit dem Thuner Wappen auf dem Deckel, um 1750.
Die Kiste könnte dem Seckelmeister als Aufbewahrungsort für Wertpapiere gedient haben, denn im Zusammenhang mit ihr sind die Namen Schrämli und Scheidegg bezeugt, also Namen von damaligen Amtsträgern.
Es folgte ein ereignisreiches Jahr: Am 10. Januar 1831 fand eine Volksversammlung in Münsingen statt, an der die Einsetzung eines Verfassungsrates und liberale Reformen gefordert wurden; drei Tage danach dankte die Berner Regierung ab. Im Februar wählte die Berner Bevölkerung einen Verfassungsrat und am 31. Juli stimmte sie der neuen liberalen Verfassung zu. Im Spätsommer erfolgte die Wahl des Grossen Rates, die in einen Sieg für die liberale Bewegung mündete. Am Ende des Jahres hatte sich der bis dato patrizisch beherrschte Kanton Bern in eine repräsentative Demokratie mit Gewaltenteilung gewandelt. Damit war ein Teil der männlichen Bevölkerung in den Genuss politischer, wirtschaftlicher und persönlicher Grundrechte gelangt; das aktive und passive Wahlrecht ermöglichte ihnen die langersehnte politische Teilhabe. Viele Einwohner des Kantons Bern blieben aber weiterhin davon ausgeschlossen. Wählen durfte nur, wer volljährig war und Grundeigentum oder ein gewisses Vermögen besass.8
Opposition erwuchs den Liberalen seitens konservativer Kräfte, denen Berner Patrizier, aber auch nichtpatrizische Bernburger und Teile der ländlichen Bevölkerung angehörten, von denen manche zum alten System zurückkehren wollten. Von den Liberalen spalteten sich zudem die Radikalen ab, denen der Umbruch zu wenig weit ging. 1845 errangen diese die Mehrheit im Grossen Rat und realisierten 1846 eine neue Verfassung, mit der unter anderem der Kreis der Wahlberechtigten erweitert wurde.
1850 gelangten kurzzeitig die Konservativen an die Macht. Nach den Wahlen von 1854 gingen die Radikalen, die nun auch Freisinnige genannt wurden, mit den Konservativen aufgrund unklarer Mehrheitsverhältnisse eine Koalition ein. Ende der 1850er-Jahre hatten die Radikalen auf kantonaler Ebene in der Legislative wie in der Exekutive die Oberhand zurückgewonnen, woran sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nichts mehr änderte, wenngleich konservative Kräfte in der Regierung vertreten blieben. Für eine Erweiterung der Volksrechte durch die Einführung eines Gesetzes- und Finanzreferendums sorgte im Kanton Bern in den 1860er-Jahren die demokratische Bewegung, eine Strömung innerhalb der Radikalen. Einer ihrer Vertreter war der Thuner Carl Samuel Zyro (1834–1896), der 1866–1893 im Grossen Rat sass.9
Der Eisenhändler Carl Friedrich Ludwig Lohner war eine der prägendsten politischen Figuren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ab 1812 nahm er Einsitz im Grossen und danach im Kleinen Stadtrat; ab 1827 war er Seckelmeister. 1831 präsidierte er die burgerliche Stadtverwaltung. Er war Grossrat in Bern zu Beginn der liberalen Ära
und kurzzeitig Regierungsrat und Landammann, also Grossratspräsident. 1835 zog er sich aus der Politik zurück. Lohner verfasste unter anderem das Ämterbuch der Stadt Thun und die Thuner Chronik. Ölgemälde von Franz Joseph Menteler (1777–1833), 1822.