Die steigende Auslastung des Waffenplatzes bringt Konflikte
Auch im 20. Jahrhundert herrschte in der Bevölkerung eine positive Grundstimmung gegenüber der Armee. Aber die zunehmende Belegung des Waffenplatzes, die Fehlschüsse der Artillerie und die Motorisierung der Truppen gaben immer öfter Anlass zu Klagen. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschwerten sich die Hoteliers über Kanonenschüsse morgens um halb sechs, welche die Touristen zu Unzeiten aus dem Schlaf schreckten. Auch andere Anwohner hatten daran offenbar keine Freude, stellte doch der Chef der Abteilung für Artillerie 1908 fest, dass unbekannte Täter die auf dem Waffenplatz aufgestellten Artillerieziele zerstört hatten.102
Lärmklagen waren in all den Jahren eine Konstante, was manchmal etwas widersprüchlich anmutete: Die Thuner beschwerten sich zwar über den Schiesslärm, wollten aber 1945 die Artillerie unbedingt in der Stadt behalten. Später setzten sie sich vehement für die Präsenz der Panzertruppen ein, verlangten jedoch, von deren Immissionen verschont zu bleiben. Bei den Panzern ging es allerdings um mehr als um Lärm: Befuhren sie ungeteerte Strassen, verursachten sie sehr viel Staub, über den sich die Anwohner beklagten. Darum wurden die häufig benutzten Strassen geteert, was jedoch wenig nützte, weil der Belag den Belastungen nicht immer gewachsen war – die Panzer rissen ihn einfach weg. Der Armeestab stellte deshalb 1947 mit Sorge fest, «dass die dadurch aufgebrachte Bevölkerung mit drohend erhobenen Fäusten reagiert hat, was im Grund begreiflich ist».103 Die Lösung dieses Problems bestand in der Anlage der Panzerpiste.
Ein Panzer 68 bei einer Schiessübung. Im Hintergrund sind Häuser erkennbar, deren Bewohner direkten Sicht- und Hörkontakt zu den Panzern hatten. Fotografie von Rolf Schertenleib, 5. April 1984.
Eine weitere Quelle ständigen Ärgers waren für die Bevölkerung Fehlschüsse der Artillerie und später der Panzer. Obwohl die Armee alles unternahm, um Unfälle zu vermeiden, kam es immer wieder zu schweren Beschädigungen von Gebäuden und Personenunfällen. Schon im 19. Jahrhundert beschwerten sich die Anwohner rund um den Waffenplatz über den Artilleriebeschuss. Jakob Hiltbrand, Besitzer des Heimwesens Schmiede, konnte den Experten des Bundes rund 40 Geschosse vorzeigen, welche im Sommer 1877 sein Grundstück getroffen hatten; eine 15-cm-Granate war direkt neben dem Wohngebäude eingeschlagen.104
Im 20. Jahrhundert führte das Bevölkerungswachstum dazu, dass immer mehr Menschen und Gebäude von den Schiessversuchen der Armee betroffen waren. Die Anwohner wandten sich 1949 mit Beschwerden an die Kriegstechnische Abteilung. Diese stellte fest: «Darin wurde immer dringender die Verlegung des Versuchsschiessplatzes von Thun weg in eine andere, weniger bewohnte Gegend verlangt. Die Bevölkerung begründete diese Forderung damit, dass der starke Geschützlärm kaum mehr erträglich sei und dass bereits erhebliche, von den Einwirkungen des Mündungsknalles herrührende Schäden an Wohngebäuden entstanden seien.»105 In der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts waren es vor allem die Panzer, welche mit Lärm und Fehlschüssen den Unmut der Bevölkerung erregten.
Auch die Flugzeuge wurden immer mehr nur noch als Lärmquelle und als Gefahr für die Bevölkerung wahrgenommen. Erste Versuche, die Fliegerschiessen zu reduzieren, gab es schon 1948. Damals fragte die Stadt Thun, ob die Fliegerschiessen in den Uebeschisee nicht aufgegeben werden könnten. Das Militärdepartement lehnte dies ab. Auf Verlangen des Stadtrates setzte sich der Gemeinderat 1989 erneut für ein Ende der Fliegerschiessen und der Fliegerdemonstrationen in Thun ein. Bereits im nächsten Jahr teilte das Militärdepartement mit, man verzichte in Zukunft darauf.106 In den 1990er-Jahren gab es eine neue Welle von Lärmklagen; diese betrafen zum einen den militärischen Verkehr in den Wohnquartieren. Deren Berechtigung wurde vom Waffenplatzkommandanten durchaus anerkannt: «Die Folge davon ist, dass durch Missachtung von Vorschriften und Anweisungen zeitweise Zustände vorherrschen, die das gute Einvernehmen zur Zivilbevölkerung in erheblichem Masse gefährden.» Zum andern ging es generell um Schiess- und Fahrzeuglärm, gegen den sich 1990 eine Petition der Vereinigung Frauen für den Frieden wandte.107
Ein etwas spezielles Kapitel sind die Unfälle und Vergiftungen bei Schiessversuchen und in der Munitionsfabrik. Obwohl ihnen erstaunlich viele Personen zum Opfer fielen, gab es keine geschlossene Reaktion der Bevölkerung. Allein 1869–1945 starben durch Unfälle in der Munitionsfabrik elf Personen. Das schlimmste Ereignis war die Explosion des Munitionsmagazins beim Zollhaus 1922, wobei rund 19 Tonnen Sprengstoff in die Luft flogen. Zwei Knaben, welche in der Nähe gespielt hatten, starben, und in der weiteren Umgebung gab es zwei Schwer- und rund 40 Leichtverletzte. Sachschäden entstanden im weiteren Umkreis bis nach Wimmis, Hilterfingen, Kiesen und Uttigen.108
Die Überreste des Munitionsmagazins im Lerchenfeld nach der Explosion vom 26. Mai 1922.
Die Fotografie stammt aus dem Untersuchungsbericht, den das EMD zum Unglück verfasste.
Weitere 13 Männer starben 1940–1977 bei Schiessversuchen. Speziell perfid waren die Quecksilbervergiftungen, welchen die Arbeiter der Munitionsfabrik während Jahren ausgesetzt waren. Bei der Munitionsherstellung entstanden Quecksilberdämpfe, die in den Jahren des Zweiten Weltkriegs nicht entweichen konnten, da die Fenster zur Verdunkelung geschlossen blieben. Die Symptome der Vergiftung wurden als «Gewerbekrankheit» bezeichnet und öffentlich nicht diskutiert. Die Einstellung der Bevölkerung zur Armee scheint das aber nicht beeinflusst zu haben.109
Manchmal brachte die Armee die Zivilisten auch mit einzelnen Massnahmen gegen sich auf. Dies war beispielsweise der Fall, als die Munitionsfabrik 1968 die Uttigenstrasse schloss; der Unmut bei den Betroffenen war gross. Immerhin beteiligte sich der Bund an einer Ersatzlösung und an einer Verbesserung der Verkehrsverhältnisse im Lerchenfeld. In jüngster Zeit versuchte die Stadt erneut, die Uttigenstrasse wenigstens für Velofahrerinnen und -fahrer wieder zu öffnen. Die Verhandlungen mit Armasuisse waren 2017 noch im Gange.110
Am Ende des 20. Jahrhunderts fand in der Schweiz ein «Sympathietest» für die Armee statt. Er brachte in Thun die gleichen Resultate wie im nationalen Durchschnitt: Am 26. November 1989 stimmten 35,4 Prozent der Thunerinnen und Thuner der Initiative der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee zur Abschaffung der Armee zu. Die Bürgerlichen lehnten die Initiative deutlich ab; einzig die Thuner Sozialdemokraten bekundeten mit Blick auf die Arbeitsplätze ihrer Wählerschaft Mühe, die Armee offen abzulehnen. So beschloss deren Sektion «unter Berücksichtigung der Stimmfreigabe durch die SP Schweiz» ebenfalls die Stimmfreigabe.111 Damit bestätigte sich, was seit jeher galt: Thun hat seit 200 Jahren ein gutes Verhältnis zur Armee. Das ist offenbar auch umgekehrt so, denn für diese ist der Waffenplatz Thun von grösster Bedeutung, und sie ist bereit, auch in Zukunft hier zu investieren.112