Die römisch-katholische und die christkatholische Kirche
Mit der Ansiedlung der Eidgenössischen Militärschule hielten sich häufiger auch Katholiken in Thun auf. Deshalb liess die Berner Regierung 1819 den Chor der Scherzligkirche für den katholischen Kult einrichten und anlässlich der Eröffnungsfeier der Militärschule zelebrierte hier ein Priester erstmals seit der Reformation eine Messe; spätestens ab 1848 fanden in Thun regelmässig katholische Gottesdienste statt. Um 1870 lebten in der Stadt gut 200 Katholikinnen und Katholiken, die sich 1865 zur Katholischen Genossenschaft von Thun und Umgebung zusammengeschlossen hatten. Zu dieser Zeit geriet die katholische Kirche in der Schweiz wegen ihrer antiliberalen Haltung und ihrer Nähe zum Papsttum unter Druck. Die Kritik seitens der radikalen Kantonsregierungen und der liberalen Katholiken verschärfte sich, als das Erste Vatikanische Konzil 1869/70 den Papst zur höchsten juristischen Instanz in der Kirche und die päpstliche Unfehlbarkeit in Fragen des Glaubens und der Moral zum Dogma erklärte.
Die Englische Kirche, Fotografie von 2018. Um 1842 eröffneten die Gebrüder Knechtenhofer im Park ihres Hotelkomplexes Bellevue, etwas oberhalb der Hotelgebäude, für ihre Gäste eine der ersten englischen Kirchen in der Schweiz. Im Sommer feierte hier ein englischer Pfarrer, der im Bellevue Kost und Logis erhielt, regelmässig Gottesdienste in englischer Sprache.
In Bern spaltete sich die alt- oder christkatholische Kirche von der katholischen Kirche ab; in Thun traten 1875 fast alle Katholikinnen und Katholiken zur christkatholischen Kirchgemeinde über. Die allgemeine Stimmung gegenüber den romtreuen Katholiken war getrübt. Bezeichnend dafür war ein Zeitungsartikel, der 1876 im «Geschäftsblatt» erschien und sich vordergründig gegen den Vorwurf wehrte, Thun sei katholikenfeindlich: «als hiesige Katholiken sich zu einem altkatholischen Verbande zusammentaten, um nach ihrer Weise Gott zu verehren, so legte man ihnen nicht nur kein Hindernis in den Weg, man bewilligte ihnen auf ihr Ansuchen sogar die hiesige reformirte Kirche zur Abhaltung des Gottesdienstes. Und wenn römische Katholiken hier ihren Kultus ausüben wollen, so wird kein Mensch ihnen das verübeln, auch wenn sie eine Kapelle errichten und den Bischof von Hebron oder sonst einen Unfehlbaren herberufen».77 Zudem wies der Gemeinderat von Strättligen im Frühling 1877 ein Gesuch von romtreuen Katholiken ab, welche die Scherzligkirche weiterhin benutzen wollten.
Die römisch-katholische Gemeinschaft in Thun erholte sich aber dank des Tourismus, der Zuwanderung und der stärkeren Belegung des Waffenplatzes rasch. Schon ab Sommer 1877 fanden trotz des Verdikts der Strättliger wie- der regelmässig römisch-katholische Messen in der Scherzligkirche statt. Auch die Stadt Thun akzeptierte die Anwesenheit der romtreuen Katholikinnen und Katholiken. Als diese den Bau einer Kirche planten, schenkte ihnen die Einwohnergemeinde den Bauplatz im Park des Grandhotels Thunerhof. Der Bau ging zügig voran, im Juli 1892 wurde die erste Messe in der Kirche St. Marien zelebriert. 1894 erhielt die katholische Pfarrei Thun, zu der damals auch grosse Teile des Oberlandes, Konolfingen, Münsingen und der Gurnigel zählten, einen eigenen Pfarrer. Die christkatholische Gemeinde in Thun blieb hingegen klein und war bis 1998 eine Filiale der Berner Gemeinde. Weil es in Thun keine christ-katholische Kirche gab, fanden die Gottesdienste zuerst im Chor der Stadtkirche und ab 1885 im Unterweisungshaus neben der Stadtkirche statt. 1913 erhielten die Christkatholikinnen und -katholiken Gastrecht in der Englischen Kirche in Hofstetten, die sie 1942 kauften und 1994 umfassend renovierten.
Die undatierte Postkarte aus der Zeit um 1900 zeigt die vier Kirchen Thuns: die Stadtkirche, die erste katholische Kirche, die englische Kirche, in welcher damals die christkatholischen Gottesdienste stattfanden,
und die Scherzligkirche, die sowohl den französisch- sprachigen Protestanten wie auch den reformierten Strättligern als Gotteshaus diente.
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Mitgliederzahl der römisch-katholischen Gemeinde Thun rasch zu, was den Bau einer grösseren Kirche erforderte. Die Kirchgemeinde beschloss, auf dem Areal der St.Marienkirche ein Pfarrhaus und eine neue Kirche zu bauen, die 1953 eingeweiht wurde. Eine weitere römisch-katholische Kirche, das Gemeindezentrum St. Martin, entstand 1971 in Strättligen. Der Zuzug von Gastarbeiterfamilien hatte zur Folge, dass schon um 1970 rund ein Drittel der Thuner Katholikinnen und Katholiken aus dem Ausland stammte. Die Missione Cattolica Italiana war ab 1964 in Thun präsent, die spanischen Familien wurden von Interlaken aus betreut. Schon 1930 gewährte die christkatholische Kirchgemeinde den Frauen das volle Stimmrecht, die Römisch-Katholikinnen hingegen durften in Thun erst ab 1967 mitbestimmen. Doch immerhin war die Pfarrei Sankt Marien die erste katholische Kirchgemeinde im Kanton Bern, die von einer Frau geleitet wurde, und zwar 1994–2003.78
Glockenweihe vor der St. Marienkirche, 1. März 1953. Der Stadtrat beschloss 1952, der römisch-katholischen Kirchgemeinde für die neue Marienkirche die grösste Glocke zu schenken. Dagegen reichten drei Bürger unter der Führung eines sozial-demokratischen Stadtrats Beschwerde ein, weil es der Einwohnergemeinde nicht erlaubt sei, eine Kirche zu beschenken. Der Regierungsstatthalter wies die Beschwerde jedoch umgehend ab.