Hier wird Kleinkunst grossgeschrieben
Die Schweizer Kleinkunstszene ist in ihrer Dichte und Ausstrahlung eine weltweite Besonderheit. Anfang der 1960er-Jahre begann die Kleintheaterbewegung, die als Alternative zu den Stadttheatern entstand und sich in der Stadt Bern bereits etabliert hatte, auch in Thun Fuss zu fassen. Die Kellertheater in der unteren Berner Altstadt, etwa die 1958 eröffnete Rampe, waren dabei richtungsweisend. Sie boten eine ideale Bühne für neue Theaterstücke von Autoren wie Beckett, Borchert, Sartre oder Wilders und für Kleinkunstformen wie Cabaret, Pantomime und Chanson. Der Lehrer und Leiter der Marionettenbühne Thun, Robert Campiche (1920–2014), der Geschäftsmann Theo Moser (1919–1991) und einige weitere Theaterfreunde gründeten am 5. März 1963 die Genossenschaft Keller Theater Thun. Auf der Suche nach einem geeigneten Gewölbekeller wurde man an der Hauptgasse 46 fündig. Dank der finanziellen Unterstützung diverser Firmen und Einzelpersonen konnte das rund 100 Plätze zählende Keller Theater Thun im Herbst 1963 eröffnet werden, als erste ständige Bühne der Stadt und des Berner Oberlands. Für einen gelungenen Einstand sorgte unter anderen das legendäre Thuner Lehrercabaret «Zapfenzieher».
Zu Beginn bestand eine enge Zusammenarbeit mit dem Berner Theater Rampe, das für den Hauptteil des Kleinkunstprogramms in Thun verantwortlich war. Alfred Rasser, Elsie Attenhofer, Kurt Marti sowie Margrit Läubli und César Keiser traten beispielsweise im Keller Theater auf; auch Namen wie Georg Kreisler, Hanns Dieter Hüsch und Reinhard Mey standen auf dem Programm. In Thun ansässige Künstlerinnen, Künstler und Ensembles erfreuten sich besonderer Beliebtheit. Neben dem «Zapfenzieher» waren dies unter anderem die Ende 1964 von einigen Studierenden, Gymnasiasten, Seminaristinnen und jungen Berufsleuten gegründete Studio-Bühne Thun sowie das 1968 gegründete Theater Schönau. Auch das Ensemble der Spiezer Schlossspiele, die 1959 entstanden waren, trat regelmässig auf und ist dem Kleintheater bis heute treu geblieben. Zudem gab es immer wieder Jazz- und Liederabende. In den ersten Jahren seines Bestehens musste sich das Keller Theater im ruhigen und beschaulichen Thun «einbürgern»; es bedurfte eines ständigen «Trommelns», um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen, wie die Verantwortlichen des Theaters konstatierten.51 Anspruchsvolle Bühnenkost hatte einen schweren Stand. Verschiedene Pressestimmen fragten 1965 denn auch, ob die Thuner Bevölkerung dieses Kleinod beziehungsweise das Kammerspieltheater überhaupt zu schätzen wisse.52
Im Keller Theater schätzte das Publikum ganz besonders die Auftritte des Lehrercabarets «Zapfenzieher», denn hier erlebte man die Lehrerinnen und Lehrer in einem neuen Kontext. Die Fotografie zeigt von links nach rechts die Ensemblemitglieder Trudi Plüss, Andreas Eichenberger, Hans Zingg, Annemarie Esche, Ueli Friedli und Marianne Orell zu Beginn der 1970er-Jahre. Werner Plüss, der hier nicht zu sehen ist, begleitete sie jeweils am Klavier mit Eigenkompositionen.
1983 feierte das Thuner Keller Theater sein zwanzigjähriges Bestehen und war damit eines der ältesten Kleintheater der Schweiz; langjähriger Theaterleiter und Präsident der Genossenschaft war Rolf Pfister (geb. 1934). 1987 erfolgte der Umzug an den heutigen Standort: Inmitten der Stadt, auf der linken Aareseite unterhalb der Sinnebrücke, fand das Kleintheater seine neue Spielstätte. Weil sich dort noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Ölmühle befunden hatte, erhielt das Theater den Namen Alte Oele. Diese ist weiterhin als Genos- senschaft organisiert, wird von einem Förderverein gestützt und dient heute als Kleinkunsttheater, aber auch als Lokal für private und kommerzielle Anlässe. Neben den bisherigen Laientheatern nutzen die Facettenbühne Thun, die Mundartbühne Uetendorf, die Thuner Freizeitbühne und die Kyburgbühne Thun, die 1945 als Heimatschutztheater Thun gegründet und 1996 umbenannt worden war, das Kleintheater.53
In den 1990er-Jahren entwickelte sich die Stadt Thun zum Mekka der Kleinkunstszene: 1993 wurde die seit 1975 existierende Schweizer Künstlerbörse erstmals im Schadausaal durchgeführt und findet seither jeden Frühling in Thun statt. Der mehrtägige Anlass wird von der Vereinigung KünstlerInnen – Theater – VeranstalterInnen, Schweiz (KTV ATP)54 organisiert und ist das wichtigste Treffen der Kleinkunstszene in der Schweiz. Rund 50 in- und ausländische, von einer Programmkommission ausgewählte Produktionen präsentieren sich den Veranstaltern und einem breiten Publikum. Im Rahmen der Darbietungen wird auch der Schweizer Kleinkunstpreis verliehen. Eine nicht unwesentliche Rolle beim Entscheid der KTV ATP, die Künstlerbörse nach Thun zu verlegen, spielte Hansueli von Allmen, der 1991–2010 Thuner Stadtpräsident war: Mit seinem seit 1970 bestehenden Schweizerischen Cabaret-Archiv hatte er bereits ein dokumentarisches Kleinkunstzentrum in den Bereichen Cabaret, Chanson, Mundartrock und Mimen geschaffen; dafür erhielt er 1996 den Titel Doktor honoris causa der Universität Freiburg. Vielseitige Kleinkunst wird seit 1988 auch an den Veranstaltungen des Kultursoufflés Thun und ab 2003 am alljährlich stattfindenden Kleinkunsttag geboten. Seit 2007 präsentiert zudem die Thuner Kulturnacht alle zwei Jahre die bunte Vielfalt der regionalen Kultur.55
Zu einer gut besuchten Veranstaltung entwickelte sich das dreitägige Literaturfestival Literaare, das 2004 ins Leben gerufen worden war und jeweils im Frühling stattfindet. Nebst renommierten Autorinnen und Autoren wer- den auch weniger bekannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller eingeladen. Literaare bietet an Lesungen Einblick ins zeitgenössische Literaturschaffen, organisiert aber auch Veranstaltungen wie Poetry Slams, Konzerte oder Stadtrundgänge. Unbekannte Schreibtalente können an einem Wettbewerb teilnehmen. Die besten drei Texte werden prämiert und am Festival präsentiert, einer davon wird mit dem Publikumspreis ausgezeichnet.