Schulbildung als Grundlage des sozialen Aufstiegs
880 stammten von 150 Schülerinnen der Mädchensekundarschule 13 Prozent aus Arbeiter- oder Dienstbotenfamilien. 1911 kamen von 199 Schülern des Progymnasiums 16 Prozent aus einer Arbeiterfamilie und 13 Prozent aus ärmeren Kleinbauern- und Kleinhandwerkerfamilien. Obwohl es für minderbemittelte Schülerinnen und Schüler Freistellen gab, waren die Kinder von Angestellten, Beamten und besser situierten Handwerkern an den Sekundarschulen in der Mehrzahl. Stellt man die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die aufgrund ihrer Herkunft aus einer ärmeren Familie die Schulmilch aus der Schülerfürsorge gratis bekamen, in Bezug zur Gesamtschülerzahl, erhält man einen Indikator für die soziale Zusammensetzung der Schulkinder an den verschiedenen Schulen. Während in der Primarschule der Stadt Thun in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler für die Schulmilch nichts bezahlte, bewegte sich dieser Anteil am Progymnasium und an der Mädchensekundarschule zwischen 12 und 30 Prozent.47
Die soziale Herkunft entschied also zu einem grossen Teil darüber, welche Schule ein Kind besuchte. Die Schulbildung wiederum beeinflusste den beruflichen Werdegang. Das zeigt der Vergleich der Lebensläufe der Primarschülerinnen und -schüler, die 1918 das Pestalozzischulhaus verliessen, mit denjenigen der Abgänger des Progymnasiums von 1923. Während Berufe wie Landwirt und Müller von jungen Männern beider Schulen ergriffen wurden, standen höhere Schulen selbstverständlich nur den Abgängern des Progymnasiums offen. Lehrer, Techniker, Architekten, kantonale und eidgenössische Beamte, Ingenieure, Chemiker und Kaufleute finden sich daher vornehmlich unter den ehemaligen Progymnasiasten. Die Primarschüler dagegen wurden Bereiter in der eidgenössischen Pferderegieanstalt, Bürstenfabrikant, Mechaniker oder Drahtzieher bei der Selve, Autohändler und Maschinentechniker. Die Familienbande waren in beiden Gruppen stark, zuweilen übernahmen die Söhne das Geschäft des Vaters oder des Schwiegervaters, auch wenn sie zuerst einen anderen Beruf erlernt hatten.
Kinder italienischer Fremdarbeiter in der Scuola du Parc der Missione Cattolica, 1963. Die Schülerinnen und Schüler wurden hier auf Italienisch unterrichtet. Diese Praxis war geduldet, weil die Behörden davon ausgingen, dass die Familien nach Italien zurückkehrten, sobald die Eltern als Arbeitskräfte nicht mehr gebraucht würden.
1975 beschloss der Regierungsrat die Schliessung der nicht anerkannten Privatschule und die Integration der Italienerkinder in die öffentlichen Schulen. Fotografie von Hans Dubach.
Noch deutlicher unterscheiden sich die Berufslaufbahnen der jungen Frauen. Unter den 52 Schulentlassenen des Progymnasiums befanden sich nur zwei Mädchen. Die eine junge Frau wurde Ärztin, die andere trat in ein Kloster ein. Diese extreme Untervertretung rührt daher, dass nur wenige Mädchen ans Progymnasium übertraten, um sich auf das Gymnasium und die Universität vorzubereiten. Viel häufiger besuchten sie die Mädchensekundarschule und erlernten danach einen Beruf im Bereich der Verwaltung, des Handels, der Erziehung oder der Pflege, der die als typisch weiblich erachteten Fähigkeiten verlangte. In der Primarschulklasse dagegen waren die Hälfte der Kinder Mädchen. Einige von ihnen gingen zuerst für ein Jahr ins Welschland und machten danach eine Lehre, zum Beispiel als Garniseuse (Hutstaffiererin), Schneiderin, PTT-Telefonistin, Köchin oder Saaltochter. Die anderen nahmen gleich nach der Schule eine Stelle in einem Hotel oder als Köchin in einem Privathaushalt an. Manchmal arbeiteten die Frauen auch nach der Heirat weiter, zum Beispiel weil ihr Mann keine feste Stelle hatte, obwohl dies nicht dem bürgerlichen Familienideal entsprach. Üblich war für verheiratete Frauen die Mithilfe im Geschäft des Ehemannes.48
Der nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein steigende Wohlstand und eine höhere Wertschätzung der Schulbildung machten es auch Arbeiter- und Bauernkindern eher möglich, eine Sekundarschule zu besuchen und damit den Grundstein für eine Berufslaufbahn ausserhalb des angestammten Milieus zu legen. Der Anteil der Sekundarschülerinnen und -schüler unter den Thuner Oberstufenschülern bewegte sich seit 1945 zwischen 40 und 56 Prozent. Er lag damit wie in anderen städtischen Gebieten über dem Kantonsdurchschnitt, der 1960 rund ein Viertel betrug. Schulreformen verwischten allmählich die Grenzen zwischen Primar- und Sekundarschulen. So führte die Primarschule Thun 1965 den Wahlfachunterricht ein, der mit zusätzlichen Lektionen in Deutsch, Französisch und Mathematik guten Primarschülerinnen und -schülern das nötige Rüstzeug für eine anspruchsvolle Berufslehre vermittelte. Das bernische Volksschulgesetz von 1992 sah mehrere Modelle für mehr Durchlässigkeit in der Oberstufe vor. Thun entschied sich für das Schulmodell Manuel mit getrennten Sekundar- und Primarklassen, aber dem gemeinsam durchgeführten Niveauunterricht in Deutsch, Mathematik und Französisch. Trotz all dieser Bemühungen bestand, wie die Pisa-Studie von 2003 zeigte, auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch ein bedeutender Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und der Leistung von Schülerinnen und Schülern.49