Wer sorgte für die Armen?
Wie bereits im Ancien Régime war im Kanton Bern ab 1807 die Heimatgemeinde für die Armenpflege zuständig. In Thun hatte folglich die Burgergemeinde arme Burger inner- und ausserhalb der Stadt zu versorgen. Die Ausgaben für die Armenpflege bestritt sie aus Zinsen und Naturalerträgen, die sie auf ihren dem Waisen-, Spital-, Spend- und Pfrundamt zugehörigen Gütern erzielte. Anders als die umliegenden Landgemeinden erhob sie keine Armensteuer. Die in Thun niedergelassenen armen Hintersässen hätten von ihrer Heimatgemeinde unterstützt werden müssen. Das erwies sich aber oft als schwierig, weil Armenunterstützung in den wenigsten Fällen in Geld, sondern viel öfter in Naturalien geleistet wurde, die sich kaum transportieren liessen.62
Ein Thuner Asylantenbatzen (TAB), 1985. Um zu verhindern, dass Asylbewerberinnen und Asylbewerber ihr Fürsorgegeld für Luxusgüter ausgaben oder in ihr Heimatland schickten, führte die Stadt 1985 den TAB ein. Der Messingjeton war in rund 70 Läden gültig und berechtigte zum Kauf von Gütern des täglichen Bedarfs.
Dagegen formte sich ein Aktionskomitee, welches das Ersatzgeld als diskriminierend bezeichnete. Nachdem sich die Zustände im Asylwesen verbessert hatten, schaffte Thun den TAB nach 13 Monaten wieder ab.
Unter der radikalen Kantonsverfassung von 1846 wurde auch das Armengesetz geändert. Ab 1847 erhielten nur noch Notarme Unterstützung. Die Heimatgemeinde war gesetzlich nicht mehr zur Armenpflege verpflichtet. Neu sollte die Einwohnergemeinde sich sämtlicher Armer, also der Burger und Hintersässen, annehmen, insofern diese nicht durch ihre Familien oder die burgerliche Armenverwaltung verpflegt wurden. Finanziert werden sollte die Armenpflege von einem Armenverein, der auf freiwilligen Spenden basierte. Anders als viele Landgemeinden, welche die Bildung von Armenvereinen verschleppten, setzte Thun das Gesetz rasch um. Die Statuten wurden im März 1848 genehmigt, im Dezember fand die Gründungsversammlung statt. Das Gebiet der Kirchgemeinde wurde in 14 Bezirke unterteilt, für die jeweils ein Armenpfleger zuständig war. 1853 unterstützte der Verein 139 Familien dauerhaft mit Lebensmitteln, weitere 132 Familien erhielten eine einmalige Gabe in Form von Saatgut, Kleidern, einer Ziege oder ärztlicher Hilfe. Am meisten Arme gab es in Strättligen und im unteren Teil der Gemeinde Goldiwil. Frauen verschaffte der Verein dank der freiwilligen Mitarbeit von Helferinnen Verdienst mit Spinnen, Stricken und Weben. Doch schon Anfang 1855 löste sich der Verein wieder auf, weil er laufend Mitglieder verlor und die besser ausgebaute Armenunterstützung in der Stadt Bettler aus den umliegenden Gemeinden anzog.63
Die Rezession ab Mitte der 1970er-Jahre schlägt sich mit ein paar Jahren Verzögerung in der Statistik der Unterstützten nieder, weil die Folgen der Arbeitslosigkeit anfänglich dadurch abgefedert wurden, dass Fremdarbeiter in ihre Heimat zurückkehrten und Frauen ihre Erwerbstätigkeit aufgaben.
Gemessen an der Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner waren in der Krise der 1930er-Jahre mehr Menschen auf Unterstützung angewiesen als in den 1990er- und 2000er-Jahren.
Die freiwillige Armenpflege scheiterte auch im übrigen Kanton, nicht zuletzt wegen der schlechten Konjunktur. Das neue bernische Armengesetz von 1857 wies daher die Armenpflege endgültig der Wohnsitzgemeinde zu. Es erlaubte den Gemeinden, wieder Steuern für die Notarmenpflege zu erheben. Für vorübergehend Unterstützte richtete Thun 1857 eine Spendkasse ein, für kranke Dürftige wurde gleichzeitig eine Krankenkasse gegründet. Gegen Bettler ging die Polizei hart vor. Auswärtige wurden in ihre Wohngemeinden abgeschoben, in Thun wohnhafte Bettler mit Gefängnis bestraft. Die Burgergemeinde betrieb auch nach der Güterausscheidung ihre eigene Armenpflege. Die freiwillige Armenhilfe bestand ebenfalls weiter. Der 1876 von 40 Frauen aus gutbürgerlichen Kreisen als Hilfsverein gegründete Gemeinnützige Frauenverein Thun zum Beispiel versorgte die Armen mit Kleidern und Heizmaterial und gab allein im Winter 1879 über 17000 Portionen Suppe aus. Der Frauenverein Strättligen wurde 1916 aus der Not des Ersten Weltkriegs geboren. Die Frauenvereine unterstützten auch später soziale Institutionen wie etwa das 1999 eröffnete Frauenhaus mit den Erlösen aus dem Betrieb einer Brockenstube sowie aus dem Verkauf von Backwaren und Handarbeiten.64
Das bernische Fürsorgegesetz, das 1962 in Kraft trat, schaffte die Unterscheidung zwischen dauernd und vorübergehend Unterstützten ab. Die Lasten der Fürsorgeaufwendungen trug wie schon seit der Einführung des Berner Armen- und Niederlassungsgesetzes 1897 zum Teil der Staat. Die Gemeinden leisteten ihren Beitrag hauptsächlich nach Einwohnerzahl und Steuerkraft, unabhängig von der Zahl und Schwere ihrer Fürsorgefälle.65