Pflegefamilie, Selbstpflege, Heim, Spital, Anstalt
Mitte des 19. Jahrhunderts war die verbreitetste Art der Verpflegung von Kindern die Verkostgeldung in privaten Haushalten, also die Unterbringung in einer fremden Familie gegen Bezahlung. 1864 ereilte dieses Schicksal die sechs Kinder von Friedrich Gysler aus Unterlangenegg, der in der Thuner Krankenstube gestorben war. Die Geschwister zwischen vier und zwanzig Jahren wurden von der Spendkommission zur Verkostgeldung ausgeschrieben und an verschiedenen Kostplätzen in drei Gemeinden untergebracht. In den 1880er-Jahren schaffte die Stadt die Verdinggemeinde ab und ersetzte sie durch die Patronatschaft. Dieses System zeichnete sich dadurch aus, dass Mitglieder der Notarmenkommission den Pflegeplatz aussuchten sowie die Pflegekinder und -familien beaufsichtigten.66
Alte Frauen und Männer auf einer Bank vor dem Asyl im Gwatt, um 1920. Um 1905 bot dieses damals noch private Asyl Platz für 15 alte und gebrechliche Personen, geleitet wurde es von einer Diakonisse. 1906 ging es als Legat des verstorbenen Jean Frédéric Albert de Rougemont an das Thuner Bezirksspital über, welches das Heim 1929 nach Glockenthal in der Gemeinde Steffisburg verlegte. Fotografie, möglicherweise von Samuel Gassner (1876–1966).
Erwachsene kamen teilweise ebenfalls an einen privaten Kostplatz oder befanden sich in der sogenannten Selbstpflege. Sie blieben zu Hause, während die Gemeinde ihnen Geld, Essen und Kleider austeilte und ihre Kosten für die Miete und den Arzt übernahm.67 Die einzigen Armenanstalten des Bezirks waren lange Zeit das burgerliche Waisenhaus und das Burgerspital an der Bernstrasse. Letzteres bot um die Mitte des 19. Jahrhunderts Platz für 30 Erwachsene, das Waisenhaus beherbergte 12 bis 20 Knaben von 7 bis 16 Jahren, nach 1867 auch Mädchen. Beide Anstalten waren ausschliesslich Burgern vorbehalten.68
Ab 1870 setzte eine Diversifizierung der Einrichtungen für Menschen mit verschiedenen Gebrechen ein. Erwachsene wurden in der Folge immer öfter in Anstalten und Heimen untergebracht, während die Verpflegung bei Privaten im Verlauf des 20.Jahrhunderts praktisch verschwand. Das Burgerspital, in dem zuvor Alte, Kranke, Arme und manchmal auch Kinder untergebracht worden waren, wandelte sich allmählich zu einem reinen Altersheim. Platz für Betagte boten auch das 1872 von Jean Frédéric Albert de Rougemont (1837–1899) gegründete Greisenasyl im Gwatt oder das 1928 in Hilterfingen eröffnete Altersheim für den Bezirk Thun. 1962 nahm im Gwatt das Wohn- und Arbeitsheim für körperlich Schwerbehinderte, 1969 die Eingliederungsstätte für geistig und körperlich Behinderte (ab 2005 Stiftung für integriertes Leben und Arbeiten) ihren Betrieb auf. Erst 1975 erhielt die Stadt mit der Sonnmatt im Dürrenast das erste Altersheim. 2007 gingen die unterdessen vier Thuner Altersheime Falken (1976–2014), Sonnmatt, Martinzentrum und Untere Mühle Steffisburg an die Stiftung Wohnen im Alter über.69
Für arme Kranke aus der Kirchgemeinde Thun eröffneten Pfarrer August Hopf (1807–1888) und seine Helfer 1855 mit dem übriggebliebenen Vermögen des aufgelösten Armenvereins eine Kranken- und Notfallstube an der Bernstrasse. 1866 kaufte Hopf die Hübelimatte hinter der Burg. Dank privater Spenden konnte darauf ein Spital für den Amtsbezirk – das heutige Spital Thun – gebaut und 1873 in Betrieb genommen werden.70
Menschen mit Behinderung bei Metallarbeiten in der Heimstätte Gwatt, 1953. Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter führte hier erstmals Beschäftigungskurse in Weben, Stricken, Kartonage und Metallarbeiten durch.
1954 beschloss die Schweizerische Vereinigung für Gelähmte die Schaffung eines Wohn- und Arbeitsheims im Gwatt. Es konnte 1962 eingeweiht werden und bot Platz für 20 bis 30 Bewohnerinnen und Bewohner. Fotografie von Hans Peter Klauser (1910 –1989).
1875 erwarb die Einwohnergemeinde Thun zusammen mit anderen Oberländer Gemeinden das Schloss Utzigen und richtete darin die Oberländische Armenverpflegungsanstalt ein. Dort wurden fortan Gebrechliche untergebracht sowie Arme, die dem bürgerlichen Ideal von Fleiss und Leistungsbereitschaft nicht entsprachen. Administrativ versorgte Männer schickten die Thuner Behörden in die Arbeitsanstalt St. Johannsen, Frauen in die Frauenarbeitsanstalt Hindelbank.71
Mit dem Mütter- und Kinderheim Hohmad verfügte Thun über ein Heim, in dem uneheliche Kinder von der Geburt bis ins Kleinkindalter versorgt wurden. Ältere Kinder und Jugendliche, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen konnten oder durften, wurden zum Beispiel im Kinderheim Tabor in Aeschi bei Spiez, in der Anstalt Sunneschyn für Behinderte in Steffisburg, in der Mädchenerziehungsanstalt Viktoria in Wabern oder im Erziehungsheim Landorf in Köniz untergebracht. Ab 1951 mietete die Stadt das burgerliche Waisenhaus an der Pestalozzi- strasse und richtete darin das städtische Kinderheim ein. Die Gründung erfolgte deshalb, weil die Behörden ausser in der Landwirtschaft kaum mehr private Pflegeplätze fanden, nachdem vermehrt Fälle von Missbrauch von Pflegekindern publik geworden waren. Das städtische Heim bot im Unterschied zu den oft nach Geschlechtern getrennten Heimen die Möglichkeit, Geschwister gemeinsam unterzubringen und die Kinder die Thuner Schulen besuchen zu lassen. Es beherbergte etwa 20 Kinder und Jugendliche, darunter vermehrt solche aus gescheiterten Ehen, sogenannte Scheidungswaisen. Das Heim litt stets unter Personalmangel. 1980 kündigte die Stadt den Vertrag mit der Burgergemeinde, weil nur noch vier Kinder im Heim wohnten.72
Das 1873 eröffnete Spital, 1974. Anfänglich verfügte das Spital über 24 Betten. Bis um 1900 wurde die Mehrzahl der Patientinnen und Patienten unent- geltlich behandelt.
1965 konnte das rechts hinter dem Spital stehende neunstöckige Bettenhaus bezogen werden. Das alte Spitalgebäude mit Uhrturm wurde 1984 abgerissen und an seiner Stelle ein Neubau errichtet. Fotografie von Hans Dubach.
Auch im Bereich der offenen Fürsorge wurden Massnahmen getroffen. Für Tuberkulosekranke wurde 1911 eigens eine Tuberkulosekommission geschaffen, deren Aufgaben 1932 an einen privaten Verein übergingen. 1921 stellte die Gemeinde Thun zwei Stadtschwestern an, die arme Kranke zu Hause besuchten und pflegten, und liess deren Arbeit von den Frauenvereinen Thun und Strättligen kontrollieren. Die städtische Krankenpflege wurde 1991 dem Verein ambulante Dienste Thun übergeben, der sich 2000 in Spitex umbenannte. Alkoholkranken versuchte die 1920 in Thun eingerichtete, für das ganze Amt zuständige Trinkerfürsorge als erste im Kanton Bern vor Ort zu helfen. Die beiden Frauenvereine führten alkoholfreie Restaurants: Schadau 1928–1983, Thunerstube im Bälliz 1930–1979, Strandbadrestaurant 1945–1981, Hotel Bären 1947–1968.
Die 1975 eröffnete Jugendberatungsstelle übernahm 1980 auch die Drogenberatung für die Region Berner Oberland und nannte sich ab 1985 Contact. Weil Drogenabhängige und Alkoholiker nicht in normalen Wohnungen platziert werden konnten, richteten die Sozialen Dienste 1983 an der Frutigenstrasse eine Notschlafstelle ein, die 1990 an die Allmendstrasse verlegt wurde und 1989–1995 auch eine Gassenküche betrieb. Seit 1994 nimmt Thun an einem Programm für die ärztliche Verschreibung von harten Drogen teil; die Einrichtung eines Fixerraums dagegen war heftig umstritten und kam nicht zustande.74