Kinder und Betreuerinnen sowie Waisenvater Gottfried Russi (1840–1919) und seine Frau vor dem Waisenhaus Thun im Bälliz, um 1914. Das erste Waisenhaus war an der Stelle des Siechenhauses an der Bernstrasse gebaut und 1771 eröffnet worden. 1806 zogen die Waisen in das neu errichtete Spital am Rathausplatz um, 1837 in die ehemalige Seidenfabrik von Johann Heinrich Nägeli im Bälliz und 1917 in einen Neubau an der Pestalozzistrasse.
Emma Horber-Kern (links) und Adeline Wyss mit einem Kleinkind, 1930er-Jahre. Emma Horber-Kern war die Frau des Juristen Carl Horber aus Zürich, von dem sie sich 1926 scheiden liess. Adeline Wyss, die Tochter eines Rechtsanwalts, hatte in Zürich Medizin studiert und kam 1921 nach Thun, wo sie in der Länggasse eine Kinderarztpraxis eröffnete. Wie die beiden Gründerinnen stammten auch die Mitglieder des Unterstützungskomitees des Mütter- und Kinderheims aus gutbürgerlichen Kreisen und waren allesamt Auswärtige.
Das Mütter- und Kinderheim Hohmad
Ledige Mütter wurden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein stigmatisiert. Uneheliche Schwangerschaften wurden verschwiegen, das Kind wurde gleich nach der Geburt an einem Pflegeplatz untergebracht, damit die Mutter möglichst schnell wieder arbeiten und für das Kostgeld aufkommen konnte. Eine radikal andere Ansicht vertrat die Zürcherin Emma Horber-Kern (1882–1943). Sie kaufte 1923 mit privaten Mitteln die Pension Jungfrau und richtete darin das Mütter- und Kinderheim Hohmad ein. Dabei stand ihr die Ärztin Adeline Wyss (1879–1940) zur Seite. Nach dem Willen der Stifterinnen sollten die ausserehelich Schwangeren im Hohmad in einem geschützten Rahmen gebären, mit ihrem Kind im Heim zusammenbleiben und sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können.
Wegen anfänglich geringer Nachfrage und finanzieller Schwierigkeiten öffnete das Heim seine Tore auch für verheiratete Frauen, für kränkliche und schwache Säuglinge, zum Beispiel Frühgeburten, sowie für erholungsbedürftige Mütter. Ab 1929 bildete das Hohmad auch Säuglingspflegerinnen aus. Die gute Pflege und Ernährung sowie chirurgische Eingriffe retteten manchem Kind das Leben. Das Hohmad wurde über Thun hinaus bekannt.
Gedacht war das Hohmad ursprünglich für gebildete Frauen. Es zeigte sich aber bald, dass alleinstehende Frauen aus allen Schichten, besonders auch aus den unteren, ins Heim kamen. Ihr Alter lag zwischen 14 und 44 Jahren. In den 1940er-Jahren nahm der Anteil minderjähriger Mütter zu. Einige Mütter waren selbst schon ausserehelich geboren worden und an einem Pflegeplatz aufgewachsen. Die Kindsväter dagegen waren offenbar meist älter, verheiratet, in Scheidung oder mit einem Heiratsverbot belegt.
Die Zunahme ausserehelicher Geburten erklärte man sich mit der gelockerten Haltung gegenüber Sexualität in der Gesellschaft, deren Thematisierung in Filmen, in der Schundliteratur und in der Aufklärung. Das Hohmad betrachtete sich daher auch als eine Art Nacherziehungsheim für gefallene Mädchen. Die Mütter wurden zu Arbeit, Disziplin und Verantwortungsbewusstsein angehalten. Diese Funktion des Heims wurde nach dem Ausscheiden der beiden Gründerinnen noch wichtiger. Laut einer Hausordnung aus den 1960er-Jahren hatten die Mütter nur einen Nachmittag pro Woche und einen Sonntag pro Monat frei. Die Regelung der Arbeits- und Freizeit unterstand einer Hausbeamtin. Die Pflege des Kindes stand unter der Aufsicht einer Abteilungsschwester, galt nicht als Arbeitszeit und durfte morgens nicht mehr als eine Dreiviertelstunde und abends nicht mehr als eine Stunde dauern. Zwischen den Pflegezeiten war ausser am Sonntag kein Kontakt zum Kind erlaubt. Die Kinder durften das Heim nie verlassen, weil man befürchtete, sie könnten sich mit einer Krankheit anstecken. An die frische Luft kamen sie meistens nur, wenn ihre Betten oder Laufgitter nach draussen gestellt wurden. Die Auswahl an Spielzeugen war gering. Die Kinder blieben im Heim, bis sie eineinhalb bis zwei Jahre alt waren, dann kamen sie nach Hause, in ein anderes Heim oder an einen Pflegeplatz. In den späteren Jahren des Heims wurden sie vermehrt zur Adoption freigegeben.
Nachdem 1959 wegen Platznot ein Neubau erstellt und 1965 ein Höchststand von 300 Geburten erreicht worden war, nahm die Nachfrage ab. Die Einstellung gegenüber ledigen Müttern hatte sich geändert, eine bessere Ausbildung der Frauen und sicherere Verhütungsmittel verhinderten ungewollte Schwangerschaften. Der 1934 gegründete Verein Mütter- und Kinderheim Hohmad löste sich 1980 auf.73